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Wissen und Inspiration

"Red-Flags" der Wirbelsäule Teil 2 - Schwerwiegende Erkrankungen der Wirbelsäule

Andreas Lieschke   •   17.04.2021

Lesezeit: 5,5 Minuten

Teil 2/3: Tumore, Metastasen, Infektionen

Einführung

Der größte Teil der Physiotherapeut:innen arbeiten im orthopädischen und sporttraumatologischen Bereich oder in der Reha nach chirurgischen Eingriffen am Bewegungsapparat. In diesen Sparten geht es selten um sehr ernste Erkrankungen, und sie werden gelegentlich etwas sarkastisch als „Luxusmedizin“ bezeichnet. Umso schwerer fällt es Therapeut:innen, an schwerwiegende oder sogar bösartige Pathologien zu denken. In Deutschland erkranken aber ca. 500.000 Menschen an Krebs (RKI 2019). Im Jahr 2030 schätzt man die Zahl auf 600.000. Weltweit wird ein Anstieg um 50% erwartet. Diesen Zahlen, die z.T. mit der älter werdenden Bevölkerung zu tun haben, stehen die besseren Heilungschancen gegenüber. Dabei steht die Früherkennung an erster Stelle, und auch Physiotherapeuten können hier ihren Beitrag leisten. Dieser zweite Artikel befasst sich mit verschiedenen Neubildungen (Neoplasmata), also Tumore und Metastasen, aber auch mit Infektionen im Bereich der Wirbelsäule, und welche Alarmzeichen Therapeut:innen diesbezüglich erkennen sollte.

Neoplasmata: Tumore, Metastasen

Bei Neubildungen muss man grundsätzlich eine Unterscheidung treffen zwischen primären und sekundären Tumoren. Primäre Tumore sind in der Wirbelsäule sehr selten! Von den seltenen primären Tumoren ist der häufigste das Osteoblastom. Gegenüber dem Vorkommen in den Extremitäten ist dieser gutartige Riesenzelltumor mit 40% in den Wirbelköpern am zahlreichsten lokalisiert.

Bösartige Tumore wie Osteosarkome sind noch seltener. Die Inzidenz in Deutschland beträgt 0,2 auf 100.000 Menschen. (Freyschmidt, 2010)
Gegenteilig ist die Situation bei den sekundären Tumoren: Metastasen sind die am häufigsten auftretenden Knochentumore im Erwachsenenalter. Nach Leber und Lunge ist der Knochen der dritthäufigste Metastasierungsort. Zweidrittel aller Knochenmetastasen betreffen die Wirbelsäule. Demnach haben etwa 10% aller Krebspatient:innen irgendwann auch Wirbelsäulenmetastasen. (Böhm et al. 2002).

Ob gut- oder bösartige Tumore, eine Komplikation dieser Neubildungen ist die Verdrängung von anderem Gewebe. Als Folgen können Wirbelkörpereinbrüche (“pathologische Frakturen“) aber auch Nerven- und Rückenmarkskompressionen auftreten. 

Die Häufigkeit für ein neurologisches Defizit als Folge der epiduralen Rückenmarkskompression variiert mit dem Ort der Grunderkrankung. Bei 22% der Patient:innen mit einem Mamma-, 15% mit einem Bronchial- und 10% mit einem Prostata-Karzinom (Gerszten et al. 2000 und 2007) kommt es zu Rückenmarkszeichen.

Die Brustwirbelsäule als Hotspot

Die Brustwirbelsäule (BWS) ist mit 60-70% der am häufigsten befallene Wirbelsäulenabschnitt, gefolgt von der Lendenwirbelsäule (LWS) mit 20% und der Halswirbelsäule (HWS) mit 10% (Steinmetz et al. 2001, Nater 2018). Therapeut:innen sollten BWS-Patient:innen immer mit einer erhöhten Wahrnehmung untersuchen und behandeln. Die Anwesenheit des Rückenmarkes, der sehr enge Spinalkanal, geringe Durchblutung und das gehäufte Auftreten von Metastasen macht die Brustwirbelsäule zu einem besonderen Teil der Wirbelsäule.

Zudem ist die BWS eine neuronale Kreuzung zwischen somatischen und viszeralen Beschwerden. Organe können Schmerzen im Bewegungsapparat vortäuschen. Thoraxschmerzen können z.B. durch eine Gallenblasenentzündung ausgelöst werden. Aber auch umgekehrt: etwa bei 30% aller Menschen, die mit klassischen Symptomen eines Herzinfarktes in die Notaufnahme eingeliefert werden, stellt sich später heraus, dass die Schmerzen eher vom Bewegungsapparat, speziell der Brustwirbelsäule herrühren. Auch die enge anatomische Beziehung zum vegetativen Nervensystem können diese Symptome verstärken (Schwitzen, Tachykardie) (Kösler 2018).

Maligne Erkrankungen in der Anamnese

Auslöser der meisten Krebsarten sind zurückzuführen auf Schädigung des Erbgutes, speziell in der Phase der vermehrten Zellteilung. In 90-95% sind Umwelteinflüsse dafür verantwortlich. (Anand et al. 2008). Eine erbliche Disposition und eine eigene frühere Krebserkrankung (Sensitivität: 31-100, Spezifität: 97-98%) sind die Hauptvorhersage-Kriterien um eine mögliche maligne Erkrankung zu erkennen. (Greenhalgh et al., 2008). Darüber hinaus gibt es noch weitere wichtige Fragen, die man mittels eines Gesundheitsfragebogens routinemäßig abklären sollte.

Krebserkrankungen und Anamnese

  • Frühere, schwerwiegende Erkrankungen? 
  • Gibt es in der Familie gehäuft schwere Erkrankungen?
  • schlimme Schmerzen nachts (nur nachts?)
  • Schmerzen konstant, keine tageszeitliche Variation, keine Änderung durch Haltung oder Bewegung
  • Thorakale Schmerzen
  • Änderung des Miktions- bzw. Stuhlgangrhythmus? (mit abdominalen Schmerzen?)
  • Wunde, die nicht heilt?
  • Ungewöhnliche Blutungen, Ausfluss?
  • Geschwulst, Knoten?
  • Verdauungsstörungen oder Schwierigkeiten beim Schlucken?
  • Auffällige Änderungen von Warzen oder Muttermalen?
  • Anhaltendes Husten oder Heiserkeit?
  • Unerklärlicher Gewichtsverlust: mehr als 5% innerhalb von 4 Wochen (Sensitivität: 15%, Spezifität: 94%)
  • Konstanter Brechreiz
  • Rauchen
  • Patient fühlt sich krank
  • Anämische Blasse
  • Schwitzen
  • Tremor
  • Müdigkeit
  • Ungepflegte Erscheinung, nicht angemessene Kleidung
  • Mundgeruch
     

Greenhalgh, Selfe. Red Flags: A guide to identifying serious pathology of the spine.
Churchill Livingstone: Elsevier. 2006

Auch hier gilt, dass nicht ein anamnestisches Zeichen die betreffende Person zu einem „Red-flag“-Patienten macht. Mehrere Punkte in der Anamnese und eine passende klinische Untersuchung formt ein Gesamtbild. 

Infektionen

Infektionen im Rahmen einer Spondylodiszitis oder Osteomyelitis sind eher selten.
Die Inzidenz wird mit 1:250 000 angegeben, allerdings liegt die Letalität bei 2 bis 17 %. Diese septischen Entzündung der Bandscheibe und der angrenzenden Wirbelkörper sind überwiegend bakteriell, gelegentlich rheumatisch.
(Sobottke 2008). Daher haben diese Patient:innen oft hohes Fieber und andere schwere Krankheitssymptome. Diese Patient:innen werden selten in einer Physiotherapie-Praxis erscheinen.

Intercostalneuralgien

Regelmäßig liest man die Diagnose “Intercostalneuralgie“ und tatsächlich geben entsprechende Patient:innn scharfe Nervenschmerzen an, die halbseitig im Verlauf der Rippen gespürt werden. Die klassische Radiculopathie, im Rahmen einer Bandscheibenpathologie ist aber im Bereich der Brustwirbelsäule nicht zu finden. Durch den hohen Ansatz des pediculus liegt das foramen intervertebrale sehr weit cranial von der Grundplatte und somit von der Bandscheibe entfernt. Nur ein “Massen-Prolaps“ könnte die Spinalwurzel erreichen. Da man aber im Bereich der BWS die schmalsten Bandscheiben findet und somit sehr wenig Nucleusmaterial vorhanden ist, kann dieser Fall praktisch ausgeschlossen werden. 

Herpes Zoster

Bei echten neuralgischen Schmerzen, die sich „gürtelförmig“ um den Thorax ziehen sollte man an daher zuerst an Herpes Zoster denken. Dies ist der häufigste Auslöser für „Intercostalneuralgien“. Außerdem ist diese Erkrankung weit verbreitet! Ca. 25-30% in der Bevölkerung (Deutschland) bekommen diese Erkrankung. Bei den über 85-jährigen haben 50% diese Erkrankung durchlebt. Als Physiotherapeut:in muss man bei Patient:innen mit anhaltenden thorakalen Nervenschmerzen auch an diese Erkrankung denken. Plötzliche, streifenförmige Hautbläschen am Thorax aber auch im Kopfbereich sind ein deutlicher Hinweis auf diese Erkrankung. Allerdings muss man berücksichtigen, dass es auch eine Form ohne Hauterscheinungen gibt: Herpes Zoster sine herpete. Chronische, neuralgische und therapieresistente Thoraxschmerzen können als Ursache in dieser leicht zu übersehenden Form haben. Diese Diagnose ist sehr schwer zu stellen und Bedarf weitere Abklärung durch einen Neurologen oder eine Neurologin. (Dayan 2017). Seit Anfang 2018 gibt es übrigens den Zoster-Impfstoff Shingrix®, die in Deutschland ab 60 Jahre durchgeführt werden kann. 

Red flags in der klinischen Untersuchung

In der klinischen Untersuchung geht es darum, den Schmerzgenerator aufzuspüren. Bewegungs- und Provokationstests werden benutzt, um den typischen Schmerz zu reproduzieren. Auffällig werden Patient:innen, bei denen die Untersuchung negativ ausfällt. Schmerzen vom Bewegungsapparat sollten auch durch Bewegungen provozierbar sein (s. Anamnese). Natürlich gibt es Ausnahmen: kleine Läsionen bedürfen oft größerer Provokation; ein Sportler oder eine Sportlerin, die beispielsweise nach einem 10 Km-Lauf Knieschmerzen bekommt, wird bei einmaliger passiver Knieextension in der Untersuchung kaum einen Schmerz verspüren. Auch referred pain, also fortgeleiteter Schmerz, der eine gewisse chemische Reaktion (Entzündung) erfordert, tritt oft nach mechanischer Irritation zeitversetzt auf (Woolf, 2010). Chronifizierte Schmerzpatienten (“Idiopatic Pain Disorder“, “Yellow flag-Patienten“) haben eine veränderte Schmerzwahrnehmung, so dass die Beschwerden konstant auftreten können und es zu atypischen Verhaltensreaktionen bei der körperliche Untersuchung kommen kann. (Fishbain 2003, Ranney 2010). 

Schlussfolgernd kann eine klinische Untersuchung im Sinne einer “red flag“ interpretiert werden, wenn der/die Patient:in nicht chronifiziert ist (keine “Yellow-Flags“), eine hohe Schmerzanamnese hat, aber die typischen Beschwerden nicht durch Bewegungstest auslösbar sind. In diesem Fall sollte auch an viszerale Erkrankungen gedacht werden und weitere Untersuchungen veranlasst werden. 

Die Zeichen von Cyriax

Prof. James Henry Cyriax (englischer Orthopäde, 1904-1985) war wahrscheinlich einer der größten Empiriker seiner Zeit und gilt bei vielen als “Vater der Orthopädie“. Durch genaue Beobachtung, akribische Dokumentation und die Entwicklung verschiedenster klinischer Tests hat er die Untersuchung revolutioniert. Cyriax beschrieb schon früh in seinem Textbook of Orthopaedic Medicine (1956) Alarmzeichen, die auf schwerwiegende Erkrankungen hinweisen. 

Das Segmentzeichen

Vielen Therapeut:innen wird aufgefallen sein, dass sich bei der Untersuchung von Rücken- und Nackenpatienten  ein asymmetrisches Bild ergibt: regelmäßig ist eine Seitneigung oder Rotation mehr schmerzhaft und/oder eingeschränkt, als die andere.Von Cyriax noch als Kapselmuster bezeichnet, wird im Bereich der Wirbelsäule jetzt vom “Segmentzeichen“ gesprochen (International Academy of Orthopedic Medicine, 2019). Dieses Zeichen beschreibt eine symmetrische Einschränkung bei der Bewegungsprüfung. Bei zentralen oder bilateralen Schmerzen gilt das Segmentzeichen als Warnhinweis auf eine schwerwiegende Pathologie. Große Entzündungen, Tumore oder Frakturen könnten vorliegen und bedürfen sofortiger Abklärung. 

Segmentzeichen nach Cyriax

I.            Zentraler oder bilateraler Schmerz
II.a         HWS: symmetrische Einschränkung der Rotation
II.b         BWS: symmetrische Einschränkung der Rotation
II.c         LWS: symmetrische Einschränkung der Seitneigung
III.          Große Extensionseinschränkung
 

The „Sign of the Buttock

Das „Cyriax`sche Gesäßzeichen“ wurde auch rein empirisch festgestellt. 
Bei diesem Befund fällt auf, dass der Untersucher sowohl bei der passiven Hüftflexion als auch beim gestreckten Beinheben (Straight-Leg-Raise, oder Lasègue-Test) das Bewegungsende nicht erreicht werden kann. Die Schmerzen im Gesäß hindern eine Weiterführung der Bewegung. Man spricht auch vom leeren Endgefühl, weil der Patient dies nicht zulässt. Dabei tritt übrigens keine Abwehrspannung auf! Erhard (2004) beschreibt in seiner Fallstudie einen 41-jährigen Patienten mit einer scheinbar klassischen L5-S1 Bandscheibenproblematik und  Radiculopathie, speziell Gesäßschmerzen. Eine passende Bildgebung und ein Trauma in der Anamnese verfestigten die Diagnose.

Allerdings musste der Patient nach 6-Monatiger Therapieresistenz erneut untersucht werden. Diesmal fiel dem Untersucher das „sign of the buttock“ auf. Nach weitergehender Untersuchung stellte sich ein Adenokarzinom (Epithelkarzinon) heraus. Der Autor schreibt dazu:
„Wir haben festgestellt, dass das Cyriax`sche „sign of the buttock“ in diesem Fall einen diagnostischen Wert hatte. Wenn dieser Test positiv ist, kann er bei der Identifizierung schwerwiegender extrakapsulärer Hüft- oder Beckenerkrankungen hilfreich sein.“

Untersuchung der BWS

Die Sonderstellung der Brustwirbelsäule wurde in diesem Artikel schon hervorgehoben. Eine auffällige Anamnese und das pathologische Bewegungsmuster des Segmentzeichens sollten gerade in diesem Bereich nicht übersehen werden! Cyriax beschreibt noch einen weiteren auffälligen Bewegungstest: die kontralaterale, schmerzhafte Seitneigung.
Bei unilateralem Thorax-Schmerz und dem einzigen Befund der kontralateralen schmerzhaften Seitneigung wurden in seinen empirischen Beobachtungen regelmäßig entzündliche Prozesse im Oberbauch diagnostiziert. Allerdings gibt es für dieses klinische Zeichen keine Evidenz.
 

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Andreas Lieschke

Geschrieben von

Andreas Lieschke

Andreas Lieschke ist selbständiger Physiotherapeut und sektoraler HP in Regensburg ("Physiopark"). Er betreute vier Jahre lang die Deutsche Junioren (U21) Nationalmannschaft der Volleyballer und ist Gastdozent an der Universität Regensburg (Sportmedizin, Unfallchirurgie). Darüber hinaus ist er Fachlehrer für KGG. 2014 wurde ihm der Titel "Master of Manual Therapy" (MOMT) von der IAOM verliehen.

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