Einführung
Im physiotherapeutischen Alltag kommen Patient:innen selten mit unentdeckten schwerwiegenden Erkrankungen in die Praxis. Dies führt aber dazu, dass durch die tägliche Routine solche seltenen Fälle übersehen werden können. Nicht nur bezüglich der Diskussion “Direktzugang“, sondern weil die Physiotherapeut:innen Patient:innen über einen längeren Zeitraum sehen, ist es wichtig, klinische Warnhinweise (sog. red flags) zu kennen, die auf eine schwerwiegende Pathologie hinweisen können. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass sich ein gesamtes Bild formt. Nicht ein einzelnes Zeichen oder ein einziger pathologischer Test führt zu einem “Red flag - Patient“. Grundsätzlich gilt: im Zweifel immer den Arzt oder die Ärztin dazu ziehen und weitere diagnostische Maßnahmen (z.B. Bildgebung) erfragen.
Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung teilt sich in Anamnese, Funktionstests, Erstellung der Arbeitshypothese und Plan der Therapie auf. Durch gezielte* programmierte* Fragestellung können schon in der Vorgeschichte red flags auftauchen. Bei den Funktionstests werden durch die Basisprüfung Warnhinweise objektiviert. Ergänzt werden diese von Zusatztests, die auf schwerwiegende Pathologie hinweisen können.
Red flags: Wirbelsäulenerkrankungen mit schwerwiegender Neurologie
Myelopathien
Beeinträchtigungen des Myelons sind am häufigsten in der Halswirbelsäule zu finden. Interessanterweise handelt es sich dabei meist um rein radiologische Befunde. Die Inzidenz liegt bei ca. 25%, das typische Alter zwischen 50 und 60 Jahren. Nur 5% von diesen Personen werden symptomatisch (1 Teresi et al.).
Die Brustwirbelsäule stellt für symptomatische Rückenmarkspathologien eine Sonderrolle dar. Der Diameter des Spinalkanals zwischen dem Segment Th4 bis Th8 ist hier im gesamten Bereich der Wirbelsäule am geringsten. Auch die Durchblutung des Myelons ist in diesem Abschnitt am schlechtesten (2 White et al.). Daher können auch kleine Raumforderungen im Spinalkanal schnell Rückenmarkssymptome auslösen.
Die häufigsten Ursachen für Myelopathien sind:
• Traumatisch: Frakturen, etc.
• Degenerative Stenosen
• Diskusprolaps
• Tumore
• Transverse Myelitis
• Syringomyelie
• Infektionen
(3. Chiles, Crandall, Meyer, Edwards, Bednarik, Hilibrand)
Anamnestische Zeichen, die auf eine Myelopathie hinweisen können
Verschiedene anamnestische Angaben können auf eine Rückenmarksbeteiligung hinweisen. Patient:innen, die Gangunsicherheit beschreiben, nur noch breitbeinig gehen (Ataxie) und oft stolpern, sind Red-Flags-Patient:innen. Viele beschreiben auch das “Gefühl, auf Watte zu gehen“. Wenn in der Befragung festgestellt wird, dass Kopfbewegungen Arm- und Beinsymptome auslösen, muss man an das Zeichen von “Lhermitte“ (Jean Jacques Lhermitte, franz. Neurologe, 1877–1959) denken. Hierbei kommt es bei HWS-Flexion zu “Stromgefühl“ in Rumpf, Armen und Beinen
(4. Chu et al.).
Das Brown-Séquard-Syndrom (Charles-Édouard Brown-Séquard, franz.-brit. Neurologe, 1917-1894) ist ein Symptomkomplex, der bei einer halbseitigen Schädigung des Rückenmarks auftritt. Im Gegensatz zur totalen Querschnittlähmung kommt es hier zu einem scheinbar diffusen Krankheitsbild: während es auf einer Körperhälfte zu einer Lähmung der Willkürmuskulatur und einer Beeinträchtigung der Tiefen- und Feinsensibilität kommt, treten auf der anderen Seite Störungen der Temperatur-, Druck- und Schmerzwahrnehmung auf (5. Poeck).
Im erweiterten Sinne muss man an dieser Stelle die meningealen Reizzustände erwähnen. Kommt es zur Irritation der Hirnhäute, spannt sich die Nackenmuskulatur reflektorisch an (Meningismus). Die betroffenen Patient:innen haben eine deutliche Einschränkung, das Kinn in Richtung Brustbein zu ziehen.
Schwerwiegende Radiculopathien
Das typische Bild einer Radiculopathie sind projizierte Arm oder Beinschmerzen, nicht selten begleitet mit Dysästhesien, (Parästhesie, Hypästhesie, Anästhesie).
Auch Kraftverlust der Kennmuskulatur (Myotome) und ein Ausfall der dazu passenden Eigenreflexe sind keine Seltenheit. Während der Grad der Intensität und auch die Ausbreitung des Schmerzes kein Indikator für den Schweregrad darstellt, (Schmerz hält sich nicht unbedingt an Dermatome (6. Lee et al., Murphy et al.), ist die schnelle Ausbreitung von Taubheit, Muskelschwäche und A-Reflexie, der sich über mehrere Dermatome und Myotome ausprägt, ein Alarmzeichen. Auch das plötzliche Verschwinden der Schmerzen, mit gleichzeitiger Zunahme der neurologischen Symptome, ist ein akutes Warnzeichen und bedarf sofortiger Abklärung. In diesem Fall können sensible Nervenfasern vollständig abgeklemmt sein, sodass keine Schmerzwahrnehmung mehr besteht.
Im Bereich der lumbalen Wirbelsäule kann es bei großen zentralen Bandscheibenvorfällen oder anderen Raumforderungen zum Cauda equina Syndrom kommen. Hierbei handelt es sich um einen orthopädischen Notfall!
Cauda-equina-Syndrom
- Reithosendysästhesie
- Sensitivität: 100; Spezifität: 67
- Rückenschmerzen in der Anamnese
- Sensitivität: 94
- Blasenretention
- Sensitivität: 90
- Abnormaler analer Tonus
Sensitivität: 100; Spezifität: 95
(8. Hoeritzauer et al.)
Neurologie in der klinischen Untersuchung
In der klinischen Untersuchung gibt es zahlreiche neurologische Testverfahren. Dabei ist zu beachten, dass es nicht das “Alles oder Nichts-Prinzip“ gibt. Bei milden Symptomen können verschiedene Tests falsch- negativ ausfallen. Am Ende zählt das Gesamtbild.
Eigenreflexe
Die typischen Eigenreflexe wie Achilles-, Patellar-, Biceps- oder Tricepssehnenreflex werden entsprechend *der* Nervenwurzeln getestet. Das Augenmerk wird auf die Auslösbarkeit gesetzt. Herabgesetzte oder fehlende Reflexantwort deutet auf eine Beeinträchtigung der Radix dorsalis hin. Als Alarmzeichen muss man die Hyperreflexie sehen, also die gesteigert Reflexantwort. Oft ist der eigentliche Sehnenreflex auch deutlich oberhalb oder unterhalb der Sehne mit dem Reflexhammer auszulösen. Hyperreflexie deutet auf eine Mitbeteiligung des Rückenmarks hin.
Fremdreflexe oder Pathologische Reflexe
Eine Vielzahl von Fremd- oder pathologischen Reflexen ist in der Literatur beschrieben. Eines der bekanntesten Manöver ist der Fußsohlenreflex mit der pathologischen Reflexantwort nach Babinski (Joseph Babinski, franz. Neurologe, 1857–1932), der eine Aktivität des M. hallucis longus beschreibt, während die Fußsohle mit einem stumpfen Gegenstand bestrichen wird. Da die Sensibilität der Fußsohle im Allgemeinen sehr hoch ist, kann dieser Test ggf. nicht ausgeführt werden bzw. es kommt zu falsch-negativen Ergebnissen (physiologischer Fluchtreflex).
Als Alternative hat Chaddock 1911 das laterale Malleolus-Zeichen beschrieben (Charles Gilbert Chaddock, amerik. Neurologe, 1861-1936).
Die Ausführung entspricht dem des Fußsohlenreflexes, nur dass hier die Außenseite des lateralen Malleolus, im Verlauf des M. peroneus brevis bestrichen wird. Die Reflexantwort (Großzehenextension) ist gleich. In beiden Fällen kann es zusätzlich zur Zehenspreizung kommen.
Beide Zeichen haben eine sehr gute Sensitivität bei Rückenmarksläsion (9. Kumar, van Gijn) mit Ausnahme einer “blinden Zone” im Bereich der oberen Halswirbelsäule.
Scapulo-humeraler Reflex
Shimizu hat in seiner Studie diese “blind zone” entdeckt: Er konnte zeigen, dass bei Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen und nachgewiesenen Rückenmarksbeteiligungen das Babinski-Manöver oft falsch-negativ ist. Liegt das kranialste Kompressionsniveau auf Höhe des neurologischen Segment C0-C2 hat der Fußsohlenreflex nur eine Sensitivität von 28,6 bis 33,3%. Ober- und unterhalb dieses Niveaus verbessert sich die Sensitivität wieder.
Der von Shimizu bezeichnete Scapulo-humerale Reflex schließt diese Lücke.
Der Reflex wird beim sitzenden Patienten durchgeführt, die Arme entspannt auf die Oberschenkel abgelegt.
Mit dem Reflexhammer wird das laterale Drittel der Spina scapulae und die* superiore* Fläche des Acromions beschlagen. Die positive Reaktion auf diesen pathologischen Reflex ist eine überschießende Schultergürtelelevation, eine glenohumerale Abduktion oder beides. Bei einer Rückenmarksläsion auf Höhe C0-C2 ist dieser Test meist beidseitig auslösbar und nur in 5% der Fälle falsch-positiv.
Kranialstes Kompressionsniveau und Sensitivität
C0-1:
Shimizu: 100% +
Babinski: 28,6% +
C1-2
Shimizu: 100% +
Babinksi: 33,3%
C2-3
Shimizu: 45,4%
Babinski: 90.9%
C3-4
Shimizu: 50,5%
Babinski: 100%
9. Shimizu et al.-
Dies war der erste Teil der Serie "Red-Flags der Wirbelsäule". Hier findet Ihr Teil 2 "Schwerwiegende Erkrankungen der Wirbelsäule" und Teil 3 "Schwerwiegende strukturelle Pathologien der Wirbelsäule"
Literatur
1 Ferguson, F. Holdsworth, L. and Rafferty, D. Low back pain and physiotherapy use of red flags: the evidence from Scotland. Physiotherapy. 2010;96, 282 – 288. 2010
1.1 Teresi, L.M., et al., Asymptomatic degenerative disk disease and spondylosis of the cervical spine: MR imaging. Radiology, 1987. 164(1): p. 83-8.
2. White AA III, Panjabi MM. Clinical biomechanics of the spine, 2 ed. Philadelphia: J.B. Lippincott; 1990;413
3. Chiles, B.W., 3rd, et al., Cervical spondylotic myelopathy: patterns of neurological deficit and recovery after anterior cervical decompression. Neurosurgery, 1999. 44(4): p. 762-9; discussion 769-70.
Crandall, P.H. and U. Batzdorf, Cervical spondylotic myelopathy. J Neurosurg, 1966. 25(1): p. 57-66.
Meyer, F., W. Borm, and C. Thome, Degenerative cervical spinal stenosis: current strategies in diagnosis and treatment. Dtsch Arztebl Int, 2008. 105(20): p. 366-72.
Edwards, C.C., 2nd, et al., Cervical myelopathy. current diagnostic and treatment strategies. Spine J, 2003. 3(1): p. 68-81.
Bednarik, J., et al., Presymptomatic spondylotic cervical cord compression. Spine (Phila Pa 1976), 2004. 29(20): p. 2260-9.
Hilibrand, A.S., et al., Radiculopathy and myelopathy at segments adjacent to the site of a previous anterior cervical arthrodesis. J Bone Joint Surg Am, 1999. 81(4): p. 519-28.
4. Chu DT1, Hautecoeur P2, Santoro JD3. Mult Scler. 2018 Dec 20:1352458518820628. doi: 10.1177/1352458518820628. [Epub ahead of print] Jacques Jean Lhermitte and Lhermitte's sign.5.
5. Klaus Poeck Diagnostische Entscheidungen in der Neurologie
Springerverlag 1986
6. M.W.L. LEE, R.W. MCPHEE, AND M.D. STRINGER* Clinical Anatomy 21:363–373 (2008) An Evidence-Based Approach to Human Dermatomes
Department of Anatomy and Structural Biology, Otago School of Medical Sciences,
University of Otago, Dunedin, New Zealand
Murphy DR1, Hurwitz EL, Gerrard JK, Clary R. Chiropr Osteopat. 2009 Sep 21;17:9. doi: 10.1186/1746-1340-17-9.Pain patterns and descriptions in patients with radicular pain: does the pain necessarily follow a specific dermatome?
7. Hoeritzauer I1,2, Wood M3,1, Copley PC3,1,2, Demetriades AK3,2, Woodfield J3,1. J Neurosurg Spine. 2020 Feb 14:1-10. doi: 10.3171/2019.12.SPINE19839. [Epub ahead of print] What is the incidence of cauda equina syndrome? A systematic review.
8. Chaddock Reflex (Charles Gilbert Chaddock 1911)
Aninda B. Acharya; James B. Fowler. Kumar 2000 : June 10, 2019.
9. Shimizu T, Shimada H, Shirakura K. Scapulohumeral reflex (Shimizu). Its clinical significance and testing maneuver. Spine. 1993;18:2182-90